Freitag, 21. Mai 2010

Edgar Allan Poe

Ich hatte mich irgendwann vor dem Abi - lang lang ist's her - ernsthaft an diesen modernen Produktionen übersehen, die damals vor allem im Thalia Theater liefen. Eine Freundin hatte mich zwischendurch mal zu den Singenden Rucksäcken im nT mitgenommen. Aber sonst? Nichts.
Und ich glaube mittlerweile: hätte ich mir im September letzten Jahres irgend etwas anderes als Edgar Allan Poe angesehen, dann wäre das noch heute so. Ich wäre danach wahrscheinlich nicht wieder gekommen.

Poe ist im Grunde wie eine Fliegenfalle für Germanisten. Und bis ich begriffen hatte, dass sie zugeschnappt war, war es längst zu spät.

Das bemerkenswerte an diesem Stück ist, dass es auch funktioniert, wenn man absolut keine Ahnung hat. Das war mein damaliger Geisteszustand: "lass'n mer uns ma überraschen". Und die erste Viertelstunde war der Fluchtreflex zumindest bei mir sogar ziemlich stark. Minimalistisches Bühnenbild, unverständliche Tänzer, abrupte Szenenwechsel und die Texte lösten auch nicht sofort Ohrwürmer aus.
Aber nachdem sich der Fluchtreflex einmal gelegt hatte, habe ich mir in der Pause tatsächlich die CD gekauft und höre diese sogar heute - ein Dreivierteljahr später - immer noch gerne.

Was war geschehen?
Irgendwann wich die Klage über das minimalistische Bühnenbild der Faszination, dass man gut 2/3 des Stückes mit vier schiebbaren L-Stücken bestreiten kann und dabei auf immer wieder andere Bühnenbilder kommt. Man gewöhnt sich an die Tänzer - vor allem wenn noch Handlung dabei ist, die Musik fräst sich ohnehin ihren eigenen Platz im Hirn zurecht und wenn man einmal im Stück drin ist, kann man auch folgen.

Gut, ich habe das Ende damals trotzdem für Kitsch gehalten. "Wenn ihr mich hören könnt bin ich unsterblich" mag ja eine tolle Pointe sein - nur ist Poe tot. Davon hat er nicht so viel. Zumindest meiner Meinung nach.

Fakt ist: wer da rein geht, erwartet dass sich mal wer über seinen Lieblingsautoren abgearbeitet hat, daraus ein Musical schrieb und gut ist: der wird auch gut unterhalten. Das Stück funktioniert ohne jede Vorkenntnis. Es gewinnt aber unglaublich, wenn man sich wirklich mal hinsetzt und sich ein wenig damit auseinandersetzt - vor allem wenn man das als persönliche Spielerei betreibt, und nicht als Universitäre Lernwerkstatt.

Meine Empfehlung für Einsteiger ist der Reclamband mit Poes Erzählungen, für Fortgeschrittene dann der Sammelschuber Sämtlicher Erzählungen aus dem Inselverlag. Die meisten Texte sind so kurz, dass man sich locker mal einen zwischendurch gönnen kann.
Und danach kann man sehr viel Spaß mit Wikipedia haben:
Griswold gab es wirklich, genauso wie Virginia und Elmira; der von Griswold im Stück verfaßte grottige Nachruf ist echt; Griswold selbst hatte auch nicht den Jackpot in der Lebenslotterie geknackt; es gibt einen sehr guten Grund warum die wichtigste Nebenfigur Reynolds heißt; Griswolds Frauen sind ein Kapitel für sich... Und wie Poes Werke nach Europa kamen ist auch amüsant.
Noch einen Abstecher über The Alan Parsons Project und irgendwo dazwischen hat man dann plötzlich begriffen: das ist kein Musical, das ist eine gesungene Biographie - was in sich extrem beeindruckend ist. Weil ernsthaft: wenn man um die Musik herum noch etwas erzählen möchte, hat man plötzlich gar nicht mehr so viel Zeit zur Verfügung. Vor allem wenn man nebenbei noch versucht auszuloten wo Wahrheit aufhört und Nachrede anfängt.

Und wenn man sich dann über Wochen hier und da und dort immer mal ein paar Schnipsel angelesen hat, dann paßt einem das Stück plötzlich wie ein Hausschuh. Die Übersetzung ist fantastisch gelungen, die Musik wirklich eingängig, dank der ständigen Glückswechsel bleibt man immer dabei und trotz einiger metaphorischer Stellen verliert das Stück nie die Bodenhaftung.
Und wie viel man von dem was man sich freiwillig angelesen hat wiederfindet ist einfach unglaublich. Irgendjemand hat da wirklich sehr viel Zeit investiert.

Oder anders formuliert: der perfekte Germanistenspielplatz.

Ja, ich habe Edgar Allan Poe mehr als einmal gesehen. Wesentlich mehr als ein mal. Vielleicht kenne ich es langsam sogar etwas zu gut. Wahrscheinlich werde ich trotzdem Pfingstmontag mit einigen Bekannten noch mal hin gehen. Und selbst wenn nicht: in der nächsten Spielzeit würde ich es mir sicherlich noch einmal ansehen. Wenn etwas dafür gesorgt hat, dass ich mir in einem Dreivierteljahr mindestens 16 weitere Stücke angesehen habe, dann kann es doch schon mal nicht grundlegend schlecht sein, oder?

Und genau damit hat sich Edgar Allan Poe auch den ersten Rezensionsplatz in diesem Blog verdient.

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